Nachrichten aus der grossen Geisterstadt Wien (3)
Dinge, die in meiner Gasse passieren. Meine Gasse ist ganz ruhig, und das, obwohl sie die Bahngasse heisst, und tatsächlich die Hälfte der wichtigen Schnellbahnlinien Wiens in einer Schlucht in der Mitte meiner Gasse verkehren. Dafür haben wir kaum Autos. Und die Bahn ist ein grosses Geräusch, aber man nimmt sie irgendwann nicht mehr wahr, weil sie ein allmähliches Geräusch ist, worin sie dem Meer gleicht.
Jenseits der Eisenbahnschlucht steht ein grosses, fast 200-jähriges Haus. Was einmal die Hochschule der Veterinäre war, ist jetzt die Musikuniversität. Damit man das auch merkt, hat man das Haus gelb angemalt und ein Stückchen Bahngasse nach einem hier sonst wenig beliebten Zwölftöner in Anton-von-Webern-Platz umbenannt. Hinter der Uni stehen zwei himmelhohe Pappeln. Zwischen der Uni und der Bahn befindet sich ein schmaler, von alten Akazien bewachsener Grünstreifen, teils eingezäunt, ein Hundeauslauf.
Das ist mein Setting. Das ist der Blick, den ich habe, wenn ich auf unseren kleinen, schwalbennestartigen Balkon trete, um zu rauchen oder mich anderweitig zu inspirieren.
Nachts ist wenig los. Manchmal rauscht eine S-Bahn vorbei, die Lichter der Waggons glimmen in der dunklen Schlucht auf. Dann wieder treten zwei oder drei Natojackenträger in den Hundeauslauf und betrachten gerührt, wie ihre Rottweiler übereinander herfallen. Da hört das Abenteuer schon wieder auf. Ach ja: Hie und da streift ein Autokabel fressender Steinmarder durch die Gasse, es befriedigt mich immer, wenn er unter unserem uralten, verrussten Renault gleich wieder hervorkommt.
Aber jüngst: Da schauen meine Liebste und ich über die Schlucht zum Hundeauslauf hinüber und sehen das folgende: Zwei gutaussehende, grossgewachsende Männer, Anfang, Mitte Dreissig vielleicht, wandern unter den Akazien auf der anderen Seite dahin, dann öffnen sie das Gatter zur Hundezone und gehen zwanzig Meter weit in das Gebiet hinein, dort ziehen sie ihre Jacken aus, hängen sie über den Zaun und reichen sich die Hand. Die Nacht ist eiskalt und von einem fahlen Mond erhellt.
Nun beginnen die Männer, wie man in Wien sagt, sich in die «Goschn» zu hauen, zu hochdeutsch: einen Boxkampf. Man hört es durch die Stille der Gasse bis zu uns hinüber, dumpfe Schläge von ungebremster Kraft, manchmal ein verhaltenes Stöhnen. Man schenkt sich nichts. Der dunkelhaarige und vielleicht ein bisschen schmächtigere der beiden Männer gerät bald ins Hintertreffen, er verteidigt sich nur noch, da hört der Grössere auf einmal auf, beginnt sich mit verzerrtem Gesicht den Ellbogen zu reiben, während der gerade noch Defensive ihn listig umtänzelt. Der Grosse sagt etwas, der andere hört zu tänzeln auf, die beiden reichen sich wieder die Hände, ziehen ihre Jacken an und gehen.
Was ist das? rätseln wir noch lange. Chuck Palahniuks Idee vom Fight Club kommt mit sieben Jahren Verspätung in unsere grosse Geisterstadt?
Das neue «Prekariat» hat kein Budget mehr für den Gang ins Box-Studio?
Oder unser Hundeauslauf macht etwas Komisches mit den Menschen, die ihn ohne Hunde betreten?
Die andere Beobachtung folgt drei Tage später. In unserem Haus lebt und ordiniert eine junge Ärztin, Schulmedizinerin, aber mit Schwerpunkt auf Atemtherapie. Einmal war ich bei ihr, da riet sie mir, mir beim Einatmen himmelblaue Luft und beim Ausatmen schwarze Luft vorzustellen. Hie und da mach ich das und fühle mich nicht schlecht.
Die Ärztin, ein netter Mensch, wirkt nach aussen immer recht gestresst und finster. Sie besitzt keinen Hund. Unlängst kam sie mit ihrem dottergelben Auto in die Gasse gebogen, stieg aus, ging aber nicht in unser Haus, sondern überquerte die Brücke, öffnete das Gatter und schritt flott in die Hundezone hinein. Im Dämmer der entlaubten Akazien verlor sich ihre Gestalt.
Nach zehn Minuten kam sie lächelnd wieder zurück.
Jetzt überlege ich, auch eines Nachts dort hineinzugehen. Ganz sicher bin ich noch nicht. Der Mensch ist ja auch feig. Doch ewig lockt, andererseits, die Hundezone.
Wenn Sie im neuen Jahr keine Kolumne von mir finden, wissen Sie, was passiert ist.
Ernst Molden
(Diese Kolumne erschien erstmals in TheTitle Nr. 10 / 4.12.2007)