2. Mai 2012
Kolumne von Markus Schneider, Berlin

Kreuzberger Idylle

«Gegen Gentrifizierung! Kreuzberg unbewohnbar machen!» So ungefähr steht es an eine Kreuzberger Hauswand gesprüht, an einer Ecke zur Reichenberger Strasse, einen Block vom Görlitzer Park entfernt. Das Thema gewinnt mal wieder an Schwung, weil lautstarke Proteste und weniger gellende Drohungen neulich ein temporäres, durch die Welt wanderndes Guggenheimprojekt gekippt haben. Es sollte auf einer Brachfläche – früher stand da mal das Yaam, das unterhaltsame Reggaevergnügungszentrum mit Streetball und Fressbuden, bevor es von einem mittlerweile bankrotten Mall-Investor zur nächsten Zwischennutzungsecke weggeschubst wurde – in der Nähe des Schlesischen Tors eingerichtet werden, aber weil BMW beim BMW/Guggenheim Lab namensgebender Sponsor ist, kochten die Befürchtungen der sogenannten autonomen Ureinwohner hoch. 

Nicht, dass ich der Meinung wäre, so ein künstlerisches Prestigeobjekt müsse unbedingt in einem armen und strukturell prekären, ohnehin durch steil steigende Miet- und Kaufpreise alarmiertem Bezirk stattfinden. Ich verstehe aber auch nicht, was genau die Gefahr einer solchen nur mehrwöchigen Installation gewesen wäre. 

Jedenfalls finde ich es eine arrogante und elitäre Idee, sich den infrastrukturellen Niedergang eines Bezirks zu wünschen. Ich denke, dass arme Familien nicht aus Neigung in unsanierten Altbauten wohnen und das anders als die – am Ende wohl nur durchziehenden - Kiezromantiker auch nicht sexy finden. Die Altmietverträge hier sind zwar niedrig. Aber die Kitas sind hoffnungslos überlaufen, die Schulen sind auf so katastrophalem Niveau, dass im letzten Jahr sogar der Regierende Party-Bürgermeister Wowereit sagte, er würde eventuelle Kinder keineswegs hineinschicken. Der Jugend-Sauftourismus und die Aktionen gegen vermeintlich zu teure Restaurants haben dafür gesorgt, dass der Kreuzberger Boulevard, die Oranienstrasse, ebenso wie die Gegend um das Schlesische Tor zum einen aus Döner- Hühner- und Wurstimbissen besteht; zum anderen gibt es unter den vorhandenen Restaurants die Tendenz zur kulinarischen Monokultur, etwa am oberen Ende der Oranienstrasse, wo ungefähr fünf (sie gehen alle ineinander über) grosse indische Restaurants liegen, die, so hört man, alle in der Hand eines Unternehmens sind, ebenso wie an der Ecke der Adalbertstrasse beim Kottbusser Tor etwa fünf türkisch/arabische Restaurants in einer Hand sind. Es gibt deutlich mehr Spielhallen als Lebensmittelläden und der sogenannte Görlitzer Park ist nach sonnigen Tagen kaum begehbar, so flächendeckend liegt der Grill- und Partymüll auf Grünflächen und Wegen. Man kann also nicht gerade von einem Luxustrend sprechen. 

Wie antigentrifizierend allerdings der Wunsch nach prekärer Idylle wirkt, dafür gibt es ein schönes Beispiel am Lausitzer Platz. Dort residierte an der Ecke ein indisch geführtes Restaurant mit günstiger, sogenannt gutbürgerlicher Küche, nicht besonders gut, nicht besonders bürgerlich, aber eben Küche. Das war wegen der netten Lage und eines Kaffeehausbetriebs ab Frühstückszeit immer recht gut besucht, aber weil der Bezirk durch seine spezielle Infrastruktur eben so attraktiv für Studenten-, Facebook- und Schülerausflüge aus aller Welt ist, erhöhte der alteingesessene Kreuzberger Immobilienbesitzer die Miete dergestalt, dass sie für das Restaurant zu teuer wurde. Gegenüber, am Parkeingang und bis in diesen hinein deutlich Spuren hinterlassend, steht seit Jahrzehnten ein populärer Hühnerimbiss, der zu seinem zehnjährigen Bestehen für etwa 24 Monate den halben Hahn zum Preis von 99 Cent anbot. So erfolgreich, dass man nun im ehemaligen Restaurant auf der anderen Strassenseite eine Filiale einrichten konnte, ohne Küche, dafür mit Hühnergrillbatterien, die im Verbund mit ihren Schwestern flächendeckend nun alle Seiten des Platzes mit dem Dunst fettiger Billig-Brathühner benebeln. Der Dichter Wiglaf Droste, seit langem Bewohner der Gegend, hat darüber hier eine schöne Kolumne geschrieben. 

Die Gentrifizierungsgegner haben zwar erfolgreich verhindert, dass sich eine wenigstens mittlere Restaurantkultur im Bezirk niederlässt. Statt jedoch die Preisentwicklung aufzuhalten, ist es ihnen nur gelungen, finanzstarke Ketten von McDonalds zu den Clanklons und Wettbüros anzulocken. Die gegen Guggenheim verteidigte Brachfläche wiederum geht vermutlich an einen der zahlreich vertretenen Superbilligdiscounter, die den vielzitierten türkischen Gemüsehändler längst verdrängt haben. Ebenso verhindert man vielleicht, dass sich akademisierte Gutverdiener in den Wohnungen – und den Parks, Supermärkten, Schulen und Kitas – niederlassen. Dafür gehen sie derzeit gern als Anlageobjekte ins heimische und skandinavische Ausland. Dauerhaft vermietet werden sie dann gar nicht mehr, sondern nur wochenendweise, und sie harren ansonsten ihrer unvermeidlichen Wertsteigerung, weil Kreuzberg nun mal ein Citybezirk ist. Ein toller Triumph.

Hier könnte man nun trefflich ein paar Ideen zur populär-populistischen Piratenpartei loswerden. Aber das ist mir noch zu diffus. Auf jede coole, informierte Anregung folgt irgendein Deppenstatement oder eine vorschnelle Schlichtheit. Dabei kann man schon mal knapp sagen, dass die Häme, die über ein paar blöde Nazivergleiche vorlauter Piraten ausbrach, fehl am Platz ist. Die Partei, die in den letzten Jahren keine Politiker wegen solch idiotischer Ideen verloren hat, kann jetzt die Hand heben. Und wenn man sich anschaut, wen die Grünen in ihren Anfängen alles so an auffälligen Gestalten in den Reihen hatten – Baldur Springmann, jemand? Herbert Gruhl?

Eine lustige Begegnung hatte ich allerdings vor ein paar Tagen. Ich war beruflicherweise zu einer rappelvollen öffentlichen Anhörung zum Music Board im Abgeordnetenhaus. Das Music Board soll die Musikwirtschaft aus Clubs, Veranstaltern, Labels der Stadt stärken, Netzwerke unterstützen, Kommunikation zwischen Kreativen und Senat fördern. Dafür steht eine Million zur Verfügung. Man wird sehen, wie sich das am Ende gestaltet. Um jedenfalls erstmal über die Bedürfnisse und Interessen Klarheit zu gewinnen, sammelte man nur unsystematisch die Vorschläge allerlei geladener oder spontan auftretender Vertreter der Sphäre - vom organisierten Mittelstandslobbyisten bis zum gentrifizierungsbedrohten Venuebetreiber und dem frei flottierenden, sich den kreativitätssteigernden Müssiggang gefördert wünschenden Künstler. Auch der kulturpolitische Sprecher der Piratenpartei schaute vorbei. Nicht etwa, um sich zum Thema zu äussern, das seit Ende letzten Jahres virulent ist. Vielmehr kam er, klappte das Notebook auf, beschwerte sich beleidigt, dass man die Abgeordneten – also ihn – nicht über die im Haus und auf der Senatswebsite angekündigte Veranstaltung informiert habe. Dann rannte er zwei, drei Mal telefonierend hinaus und zurück, klappte das Notebook zu und war verschwunden.

Hinaus in den Frühling, kann man hoffen. Er blüht ja derzeit angenehm und stimmt weich und versöhnlich. Wenn ich aus meinem Bürofenster hinausschaue, spielen die Kinder auf der grosszügigen Grünfläche eines Kindergartens. Unter dem Balkon wiederum freuen sich in ihren kleinen Gehegen auch die Kaninchen, die ein paar Hausbewohner vermutlich zur Naturschulung ihrer Kinder halten. Ob die Tiere von der Restaurantküche, die sich in ihre Richtung öffnet, beunruhigt sind, kann man nicht sagen. Sie rammeln und mümmeln meist, wie es scheint unbeschwert, vor sich hin. Gelegentlich schaut ein Eichhörnchen oder ein freilebender Kaninchenkollege aus der ständig wachsenden und variantenreichen Stadtfauna vorbei, die auf ein Stück Möhre eingeladen werden – bürgerlich versorgte Luxusexistenzen und riskant sich durchschlagende Lebenskünstler in gelassener Eintracht. Es könnte bestimmt irgendwie sinnbildlich sein. 

Markus Schneider
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